
„Es ist Zeit, die Materialien, aus denen unsere Gebäude bestehen, neu zu denken“
Materialien von Grund auf neu denken, um Emissionen zu reduzieren und ein nachhaltigeres Bauwesen der Zukunft zu gestalten.
F: Diskussionen über die Dekarbonisierung der bebauten Umwelt drehen sich oft um die Frage der Energieeffizienz. Welcher Aspekt kommt Ihrer Meinung nach bei diesem Thema immer noch zu kurz?
Fernando Resende: Die Energieeffizienz ist wichtig, aber sie macht eben nur einen Teil des CO₂-Fußabdrucks aus. Die Bauindustrie ist für rund 37 % der weltweiten CO₂-Emissionen verantwortlich. Etwa ein Viertel ist davon auf den sogenannten „Embodied Carbon“ zurückzuführen ist, also Emissionen, die schon auf Materialebene, beispielsweise bei Dämmstoffen, Beton und Stahl anfallen, noch bevor ein Gebäude überhaupt genutzt wird. Um die Klimaziele zu erreichen, müssen wir also sowohl betriebliche als auch materialbasierte Emissionen gleichzeitig berücksichtigen. Das bedeutet, dass wir nicht nur überdenken müssen, wie wir bauen, sondern auch, womit wir bauen – und dabei insbesondere nach nachhaltigeren Baulösungen suchen.
F: An welchen Innovationen arbeiten Sie gerade, um die Herausforderungen des enthaltenen Kohlenstoffs zu bewältigen?
Resende: Bei Covestro konzentrieren wir uns auf die Entwicklung kohlenstoffarmer, biozirkulär attribuierter Polyurethan-Rohstoffe für Dämmstoffe und andere Bauprodukte, die zur Reduzierung des CO₂-Fußabdrucks beitragen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Desmodur® CQ MS, wie es beispielsweise vom Hersteller Recticel in seinen „Recticel Impact”-Dämmplatten verwendet wird. Es bietet die gleiche Leistung wie PU auf fossiler Basis, reduziert aber die CO₂-Emissionen um bis zu 43 %1 und senkt damit den enthaltenen Kohlenstoff deutlich.
Die Rohstoffe sind teilweise biozirkulär attribuiert und über den Massenbilanzansatz zertifiziert, sodass sie als nahtlos integrierbarer Ersatz geeignet sind. Wir kommen dabei komplett ohne Änderungen im Fertigungsprozess aus.
F: In der Branche geht man weithin immer noch davon aus, dass mit nachhaltigen Materialien automatisch Abstriche bei der Leistung einhergehen. Ist diese Annahme noch korrekt?
Resende: Nicht in diesem Fall. Die Platten von Recticel bestehen zu 25 % aus biozirkulären Rohstoffen, die nach dem Massenbilanzansatz zugeordnet werden, behalten dabei aber trotzdem ihre hohe Wärmedämmleistung und tragen so je nach Anwendung zu einer Reduzierung des Heiz- und Kühlbedarfs um bis zu 70 % bei. Diese Dämmstoffe bieten eine hohe Qualität und reduzieren gleichzeitig die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen spürbar.
Damit schaffen wir einen Mehrwert für die Umwelt ohne Abstriche bei den technischen Standards.
F: Können Sie Beispiele nennen, wo dieses Material bereits verwendet wird?
Resende: Da gibt es so einige gute Beispiele. Eines ist der Hauptsitz von TVH Parts in Belgien, wo kürzlich ein Dach mit Recticel-Platten mit Desmodur® CQ MS nachgerüstet wurde. Im Rahmen dieses Projekts konnten sowohl Energieeffizienz als auch Nachhaltigkeit verbessert werden. Und dies war ganz ohne Kompromisse beim Design oder Änderungen am Fertigungsprozess möglich. Das zeigt, dass diese Technologie sich sowohl bei der Sanierung bestehender Gebäude als auch bei modernen Bauprojekten für den Einsatz in großem Maßstab eignet.
Ein weiteres Beispiel ist das Cultuurhuis in Stekene, Belgien – ein neues Kulturzentrum, das Nachhaltigkeitsprinzipien von Grund auf integriert. Auch hier wurden Recticel-Dämmstoffe mit unseren alternativen Rohstoffen in der Gebäudehülle verwendet. Das Cultuurhuis ist besonders interessant, weil es zeigt, wie öffentliche Architektur mit gutem Beispiel vorangehen kann – indem sie Leistung, Umweltverantwortung durch den Einsatz von CO₂-armen Dämmplatten mit Desmodur® CQ MS und eine bürgernahe Funktionalität kombiniert.
F: Warum hat sich diese Lösung nicht schneller durchgesetzt?
Resende: Der Embodied Carbon wurde früher im Vergleich zum Betriebsenergieverbrauch oft übersehen, das ändert sich jedoch gerade. In der Bauindustrie wächst das Bewusstsein dafür, wie wichtig es ist, den Embodied Carbon und den gesamten CO₂-Fußabdruck zu reduzieren. Die regulatorischen Rahmenbedingungen in ganz Europa zielen als Teil der übergeordneten Klimaziele zunehmend auf die Reduzierung der grauen Emissionen ab. Auch Zertifizierungen für umweltfreundliche Gebäude wie DGNB und LEED legen einen stärkeren Fokus auf die Auswirkungen der Materialien. In Verbindung mit dem Druck seitens der Investoren verändert dies die Art und Weise, wie Materialien innerhalb der Lieferkette der Bauindustrie ausgewählt werden.
F: Wie sieht die Zukunft der Baumaterialien aus?
Resende: Der Schwerpunkt liegt zunehmend auf der Gesamtlebenszyklusleistung – einschließlich CO₂-Reduzierung, Langlebigkeit und Zirkularität. Wir investieren in kohlenstoffarme Rohstoffe und Lösungen für das Ende des Lebenszyklus. Indem wir fossile Materialien mithilfe des Massenbilanzansatzes durch biozirkuläre Inhaltsstoffe ersetzen, stellen wir einen erneuerbaren Rohstoff bereit. Gemeinsam mit unseren Partnern aus den Bereichen Mechanik und Chemie setzen wir im Recyclingbereich immer wieder neue Maßstäbe. Ein gutes Beispiel ist das EU-finanzierte Projekt „Circular Foam“, in dem wir gemeinsam mit führenden Universitäten und Industriepartnern die chemische Verwertung von Polyurethan-Dämmstoffen erforschen. Wandel im Bereich Baumaterialien nimmt Fahrt auf.
F: Möchten Sie noch einen abschließenden Gedanken teilen?
Resende: Nachhaltigkeit ist kein Kompromiss, sondern ein zentrales Gestaltungsprinzip für eine nachhaltigere Zukunft.
Mit den richtigen Materialien können wir von Anfang an besser bauen – indem wir kohlenstoffarme Baumaterialien verwenden, CO₂-Emissionen reduzieren und unsere Denkweise in Bezug auf die bebaute Umwelt verändern.
1 Interne Ökobilanzberechnung gemäß Norm EN15804+A2 für die Module A1 bis A3 (Cradle to Gate), basierend auf dem Massenbilanz-Ansatz.
